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Was studieren wir, wenn wir Geschichte studieren?
Das Fach, das wir in den Universitäten vertreten und belegen, heißt „Geschichtswissenschaft“, besagt also, dass ein wissenschaftlicher Zugang zur Geschichte nicht nur möglich, sondern zum Erwerb von Wissen über Vergangenes sinnvoll ist. Wissenschaft definiert sich allgemein sowohl über ein ihr spezifischen Gegenstand als auch über ein ihr ebenso spezifisches Methodeninstrumentarium. In den Universitäten wird das, was wir heute Geschichtswissenschaft nennen, seit dem späteren 18. Jahrhundert erforscht und gelehrt. Heißt das, dass vor dieser Zeitspanne Geschichte Gegenstand weder von Forschung noch von Lehre war? Oder ist Geschichtswissenschaft ein spezifischer forschender Zugang zur Vergangenheit, neben dem andere forschende Zugänge bestanden und bestehen? Diese Lehrveranstaltung hat zunächst das Ziel, Geschichtswissenschaft in den Kontext verschiedener anderer forschender Zugänge zur Vergangenheit einzubeziehen und dafür sowohl in Epochen vor dem 18. Jahrhundert zurück- als auch über Europa hinaus zu blicken.
Der US-amerikanische Historiker Carl Lotus Becker (1873 – 1945) versah eine im Jahr 1935 erschienene Aufsatzsammlung mit dem Titel „Everyman His Own Historian“ und brachte damit seine Ansicht zum Ausdruck, dass neben der universitären Geschichtswissenschaft eine Vielzahl anderer Zugänge zur Vergangenheit bestanden und bestehen, ging so gar so weit zu behaupten, alle hätten ihren eigenen Weg zur Vergangenheit. Dabei bezog er sich auf den Umstand, dass hauptsächlich auf der Schriftüberlieferung beruhendes Wissen über Vergangenes nicht nur in Universitäten vermittelt wird, sondern auch in Schulen, in der Familie, in der Gesellschaft als ganzer. Er glaubte also, dass Wissen über Vergangenes nicht ein kollektiv verbindlich sein könne, sondern die Vielzahl gewissermaßen privat erworbener Formen von Wissen über Vergangenes mit der durch die Geschichtswissenschaft erfoschten Form konkurriere. Ungefähr gleichzeitig mit Becker überarbeitete der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877 – 1945, ermordet im Konzentrationslager Buchenwald) seine Theorie des kollektiven Gedächtnisses und kam zu einem noch radikaleren Schluss: Erinnerungen an Vergangenes seien primär mündlich tradiert und dies könne nur in einem kollektiven Gedächtnis geschehen; er setzte also das kollektive Gedächtnis als den „sozialen Rahmen“ für Gedächtnisbildung überhaupt voraus. Das von der Geschichtswissenschaft vermittelte Wissen über Vergangenes sei daher keine Erinnerung. Der Althistoriker Alfred Heuß (1909 – 1995) spitzte im Jahr 1959 Halbwachs’ These in die Formulierung zu, Geschichte bringe Erinnnerung zur Strecke. Die Lehrveranstaltung soll über diese Thesen kritisch reflektieren.
Vor Beginn der Lehrveranstaltung, die vom 20. bis 22. Juni 2025 als Blockseminar stattfindet, werden alle Teilnehmenden einen umfangreichen Reader mit den Inhalten erhalten. |