Mit der Konjunktur der literarischen Gattung ‚Autosoziobiografie‘ geht auch neue Aufmerksamkeit für die Kultursoziologie Pierre Bourdieus einher. Ohnehin richtet sich Bourdieus Analyseeinstellung stets auf den modus operandi von Lebensäußerungen, hier die Verquickung von Sprechen und sozialer Herkunft. Mit der Autosoziobiografie erfährt dies eine doppelte Reflexivität: Zum einen ist das biografische Sprechen selbst schon eine komplexe kulturelle Leistung der Selbstbezüglichkeit und nicht lediglich die Dokumentation gelebten Lebens. Zum anderen nimmt der (sich häufig explizit auf Bourdieu berufende) Rekurs auf eigenes Milieu-, Herkunfts- oder Klassenschicksal nochmals eine Versozialwissenschaftlichung des Blicks auf die eigene Biografie vor. Dabei kann es zum merkwürdigen Wagnis werden, den eigenen Habitus habitusanalytisch zu untersuchen; im Grunde ein Paradox. Aber dies stört keineswegs, denn auch hierbei wird Material produziert, das zu untersuchen lohnt.
Das Seminar ist von drei Schwerpunkten geleitet: a.) Biografisches Sprechen als modernen Bezugsraum des Selbst verständlich zu machen, b.) Autosoziobiografien als Form literarischer Auseinandersetzung von Ich + Ich-Geschichte in den Blick zu nehmen, und c.) ein Gespür für die Grundzüge von Bourdieus Kultursoziologie zu entwickeln, die in b.) einfließen.
Ganz fern eines literaturwissenschaftlichen Zugangs ist der Kurs ausdrücklich als Einführung in diese Punkte gedacht und richtet sich an Einsteiger*innen in die Thematik. Wir lesen Auszüge aus Bourdieus Texten zu Habitus, zum praktischem Sinn, die sozialen Unterschiede, und widmen uns ausgewählten jüngeren autosoziobiografischen Texten verschiedener Autor*innen.
Mindestens flankierend lässt sich auch die Frage nach der generellen Konjunktur von Autosoziobiografien stellen; etwa ein neu entstandener Diskursraum für Erfahrungen mit Klassismus, der immer neu entdeckte Stellenwert des Habitus für die Ungleichheitsanalyse, das Verlangen nach Möglichkeiten einer Objektivierung der eigenen biografischen Subjektivität und anderes mehr. |