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Kein Mensch kann das noch lesen: Die massenhafte Textproduktion der Wissenschaft erscheint heute vollkommen verselbständigt gegen jede Reallektüre. Wer sich auf die Suche nach Literatur für die nächste Hausarbeit begibt, landet schnell bei Portalen, die stolz berichten, wie viele Tausend „papers“ dort pro Monat katalogisiert werden. Findet sich in diesem Textberg tatsächlich noch irgendwo das verkörpert, was es als „Stand der Forschung“ zu referieren gilt? Und wer unterdessen mit Lehrenden ins Gespräch kommt, gewinnt häufiger den Eindruck, dass deren Schreibrhythmus eher vom Universitätsbetrieblichen als vom Erkenntnisinteresse diktiert wird. In diesem Betrieb zählt, was man zählen kann. Man schreibt nicht, um gelesen zu werden – sondern um publiziert worden zu sein. Womöglich offenbart sich das Mehr, das hier geleistet wird, als ein Weniger, sobald man Maß nimmt an dem, was Wissenschaft selbst von sich verlangt: Allseitige Kritik, Prüfung, Konkurrenzerfolg durch Widerlegung, durch epistemische Innovation, plausiblere Deutung und bessere Erklärung (statt bloß durch größere Textmassen-Absonderung). An vielen Ecken tritt der Widerspruch zutage zwischen einem Betrieb voller Produktivitätsanreize und den überlieferten Normen gelingender wissenschaftlicher Erkenntnis. Das Seminar mustert Symptome einer möglichen akademischen „Überproduktion“ – und die Praktiken ihrer Bewältigung auch bei uns selbst. Es konfrontiert zweitens diese Situation mit einigen klassischen wissenschaftstheoretischen Selbstbeschreibungen. Und es fragt drittens nach den epistemischen Konsequenzen, die es gerade für die Forschungen in Kultur- und Sozialwissenschaften haben könnte, wenn man sich gleichzeitig zum Vielschreiben wie zum lektüresparenden Bescheidwissen über ungelesene Texte genötigt sieht. In einem Exkurs über drei Sitzungen versuchen wir schließlich viertens, unseren Gegenstand durch einen Kontrast zu schärfen: Was unterscheidet die Massenproduktion des akademischen Betriebs eigentlich von jener in der Popmusik?
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