Lerninhalte |
Die Demokratisierungsdefizite unserer heutigen westlichen Gesellschaften lassen sich nicht ausschließlich auf dem Weg einer Suche nach rationalen Rechtfertigungen der Demokratie beheben, sondern nur durch die Etablierung von demokratischen Lebensformen. In Bezug auf Lebensformen hat sich die praktische Philosophie allerdings spätestens seit Kant ein Denkverbot auferlegt. Dieses Denkverbot wurde mit liberalistischen Argumenten begründet. Lebensformen, so das liberalistische Credo, seien gerade in einer demokratischen Gesellschaft frei wählbar; bestimmte Lebensformen normativ auszuzeichnen schwebe in der Gefahr des Totalitarismus. Das Politische Denken der Moderne konzentriert sich insofern nur auf zwei der drei Ideale der französischen Revolution, auf die liberté und égalité, nicht dagegen auf die fraternité. Die Enthaltsamkeit gegenüber der fraternité und den konkreten Formen gemeinsamen Lebens führt einerseits dazu, dass heute der Markt über die Lebensformen entscheidet, dass in unseren westlichen Gesellschaften eine besitzindividualistische und konsumistische Lebensform als universell und scheinbar alternativlos erscheint (mit fatalen sozialen und ökologischen Folgen), andererseits dazu, dass rechte Populismen ein stets latentes Bedürfnis nach Vergemeinschaftung mit ideologisierten Sinnangeboten befriedigen können.
Demokratie muss nicht nur rational begründet und staatlich institutionalisiert werden, sondern in erster Linie gelebt. Sie verkörpert zuvörderst eine Sehnsucht: nach einem angstfreien, vielleicht sogar freudvollen (wenn auch niemals vollständig versöhnten) Miteinander Verschiedener, nach einer Gemeinschaft Freier und Gleicher, nach einer Zugehörigkeit, die nicht weiter von exkludierenden Voraussetzungen abhängig gemacht würde, nach einer Gesellschaft, die von ihren Bewohnern insofern als ihre Gesellschaft begriffen werden könnte, als sie in ihr den freien Ausdruck ihrer eigenen kollektiven Praxis sehen, nach der Offenheit von Debatten, die von keiner vermeintlich objektiven Position aus kontrolliert werden können, in denen alle alles zu sagen vermögen.
Im Seminar lesen wir Ausschnitte von Autorinnen und Autoren, die Demokratie dezidiert als Lebensform begriffen haben bzw. begreifen.
AM DONNERSTAG, 24. OKTOBER, FÄLLT DIE VERANSTALTUNG WEGEN DES PKM-TAGES AUS.
07.11.19 Einführung
14.11.19 Aristoteles, Der Staat der Athener, übers. u. hg. v. Martin Dreher, Stuttgart 2009, 33-56 [besonders: Solon (36-44) sowie Kleisthenes und die Besetzung der Akropolis (52-56)].
21.11.19 Aristoteles, Eudemische Ethik, hg. von Franz Dirlmeyer, Berlin 1962, Buch VII (Über die Freundschaft), 62-95.
dazu: Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2002, 136-139, 267-269.
28.11.19 Isabell Lorey, Präsentische Demokratie (2014), https://transversal.at/blog/praesentische-demokratie
05.12.19 Richard Overton, An Arrow against all Tyrants, in: Andrew Sharp (ed.), The English Levellers, Cambridge 1998, 54-72.
12.12.19 Jean-Jacques-Rousseau, Gesellschaftsvertrag, übers. u. hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 1977, Buch IV, Kapitel 8, Von der bürgerlichen Religion, 140-153
dazu: Simon Critchley, The Faith oft he Faithless, London/New York 2012, 21-25, 35-46, 67-78.
19.12.19 A. Hamilton/J. Madison/J.Jay, Die Federalist Papers, hg. v. Barbara Zehnpfennig, München 2007, 93-100; Anti-Federalist Papers: John DeWitt 1 (https://www.constitution.org/afp/dewitt01.htm) & John DeWitt 2 (https://www.constitution.org/afp/dewitt02.htm), Centinel 1 (https://www.constitution.org/afp/centin01.htm)
dazu: Dirk Jörke, „Anti-Federalists“, in: Radikale Demokratietheorie: Ein Handbuch, hg. v. Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen und Martin Nonhoff, Berlin 2019, 59-67.
09.01.20 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, übers. v. Hans Zbinden, München 1976, 69-77, 197-198, 353-357.
16.01.20 John Dewey, „Die Suche nach der großen Gemeinschaft“, in: ders., Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Bodenheim 1996, 125-155.
23.01.20 Albert Ogien/Sandra Laugier, Das Prinzip Demokratie, Konstanz 2017, 9-40.
30.01.20 Michael Walzer, „Leidenschaft und Politik“, in: ders., Vernunft, Politik und Leidenschaft, Frankfurt a.M. 1999, 66-94.
06.02.20 Judith Butler, „Körperallianzen und die Politik der Straße“, in: dies., Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016, 91-132.
X |