Was sind weltgeschichtliche Zäsuren? Was können Ereignisse sein, die dieses Attribut verdienen? Und wie lassen sie sich abgrenzen, von all den Ereignissen, die einfach in der Vergangenheit liegen? Was macht ein Ereignis zu einer Zäsur von Weltbedeutung, also von globaler Relevanz - wie wir heute sagen würden - für Politik und Gesellschaft. Und verleiht einem Ereignis eine übergreifende historische Bedeutung? Der Ausdruck "Zäsur" beinhaltet zudem eine starke Eingrenzung, schließlich ist mit ihm von einem Ereignis als markanter Änderung die Rede.
Aber auch hier kann noch leicht Skepsis angebracht werden. Denn die Weltgeschichte ist lang und voller Wendepunkte in Kultur, Technik, Politik, Gesellschaft - um nur einige Dimensionen zu nennen. Wann ist also ein Wendeereignis weltgeschichtlich relevant? Außerdem impliziert die Rede von der Zäsur eine problematische These zum historischen Wandel. Geschieht dieser ausschließlich in Form von Ereignissen, die Diskontinuität anzeigen? Oder gibt es nicht auch allmählichen und deshalb umso nachhaltigeren Wandel? (Gemäß der Figur, dass das weiche Wasser den Stein bricht.) Legt die Rede von Zäsuren somit unnötig auf eine Ereignisgeschichtsschreibung fest und lässt die Geschichte der Strukturen (a la Braudel und der Annales-Schule etwa) außer Acht?
Soviel Zweifel an drei einfachen Jahreszahlen, die uns allen so selbstverständlich aktuelle "Weltereignisse" vermitteln: Das Ende des osteuropäischen Sozialismus - symbolisiert durch den Fall der Mauer -, die neue Form eines weltweiten und transnationalen Terrorismus, der sich in den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon offenbarte und die ersten Siege der arabischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten, die sich in den friedlichen Demonstrationen und den Abgängen der Machthaber Ben-Ali und Mubarak dokumentierten.
Die folgenden Überlegungen sollen dazu beitragen, das Verhältnis von Weltgeschichte und Zeitgeschichte zu klären - und zwar aus dem Blickwinkel von drei Disziplinen, die vorwiegend zeitgeschichtlich orientiert sind, nämlich der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Zeitgeschichte als Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, von einigen auch Gegenwartsgeschichte genannt.
Das Gebiet (der Gegenstand) der drei genannten Fächer lässt sich objektiv über zwei historische Bruchstellen einführen einerseits sowie andererseits subjektiv über die Kennzeichnung des Vergangenheitshorizonts der mit ihr eingenommenen Beobachterposition. Objektiv markieren das Ende des Ersten Weltkriegs und das Ende des Kalten Kriegs das "Zeitalter der Extreme" (Hobsbawm). Insofern beziehen sich die im Titel genannten drei Ereignisdaten auf die Zeit nach dem "Age of Extremes". Aber was markieren sie dann? Ende, Neuanfang oder Übergang? Subjektiv reichen sie zurück in den erlebten Vergangenheitshorizont noch lebender Zeitzeugen. Zeit- bzw. Gegenwartsgeschichte bestimmt sich dann über die Gegenwart der Vergangenheit in Form lebendiger Erinnerung. Gemäß der subjektiven Definition rückt heute der Beginn des Ages of Extremes mit der Russischen Revolution und den gescheiterten Demokratien in Zentraleuropa aus der Betrachtung der Gegenwartsgeschichte in die der Epochengeschichte. Hier setzen interessante Fragen nach dem Verhältnis von Forschungsergebnissen, die noch die Quellen der Zeitzeugen befragen konnten und den Forschungsergebnissen, die dazu nicht mehr imstande sind. Dieses Verhältnis wird in naher Zukunft auch die kurze Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs betreffen. Die genannten Zäsuren sind im objektiven wie im subjektiven Sinn Gegenstand der Zeitgeschichte. Sie sind damit auch Gegenstand der soziologischen Gegenwartsanalyse und der politikwissenschaftlichen Bestimmungen zur Lage unserer Zeit.
Die Ringvorlesung wird sich vielfältigen Fragen und Aspekten der Gegenwartsanalyse an Hand dieser weltgeschichtlichen Zäsuren widmen. Wirkten sich und wenn ja, wie diese (möglichen) Zäsuren 1989 - 2001 - 2011 auf gesellschaftliche Strukturen aus? Welche sozialen Veränderungsprozesse wurden eventuell angestoßen? Was bedeuteten diese Zäsuren für die Weltpolitik? Welche neuen und anderen internationalen Konstellationen haben sich nach dem Aufbrechen des Ost-West-Konfliktes ergeben? Was ist auf das "Zeitalter der Extreme" gefolgt - die Ablösung von Autokratien und eine Evolution zu immer mehr Demokratie? Und wie kann die Geschichtswissenschaft mit diesen Zäsuren umgehen? Handelt es sich um Zeitgeschichte der welthistorischen Zäsuren oder Entwicklungsprinzip der Weltgeschichte?
Die Diskussion dieser Fragen wird in Form des Dialogs zwischen den Fächern der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie geschehen. Die Struktur der Vorlesungen wird dies widerspiegeln: Nach einem Vortrag eines/r Vertreter_in einer Disziplin werden Vertreter_innen der anderen beiden Disziplinen den Vortrag aus ihrer Sicht kommentieren. Dann soll sich eine allgemeine Debatte mit dem Auditorium anschließen. |